Dem Thaynger Löwen auf der Spur

Selbst wenn man kein weidendes Rentier gefunden hätte, würde das Kesslerloch zu den schützenswerten archäologischen Fundstätten der Welt gehören.

Andreas Schiendorfer

Der Löwe hat in Thayngen Tradition. Der Ortsteil Hofen führt den König der Tiere wegen seines früheren Besitzers Tobias Holländer (1636–1711) sogar in seinem Wappen. Ebenfalls ein Löwe, allerdings ein roter, ziert das Familienwappen des ausgestorbenen niederadligen Geschlechts derer von Fulach. Folgerichtig richteten die Fulacher zwischen 1359 und 1580 ihren Thaynger Vogteisitz im Haus zum Löwen ein. Danach residierten hier bis 1798 die Obervögte der Stadt Schaffhausen, seither ist der «Löwen» der Gastfreundschaft gewidmet. Diese adligen Löwen stehen für die Kraft, den Mut und die Respekt erheischende Macht ihrer Besitzer, ein Beweis für Löwen in unserer Region sind sie nicht. Was aber sollen wir vom «huss … an der löwerenn» halten, das laut Max Kochs Dissertation über die Thaynger Flurnamen im Urbar der Kirche Thayngen von 1585 aufgeführt ist? Dahinter steckt ebenfalls kein Löwe, sondern das mittelhochdeutsche Wort «lêwer» für «Anhöhe».

Der «Karl May der Schweiz»

Ältere Thaynger erinnern sich vielleicht daran, wie sie in ihrer Jugend die oft nachgedruckten Romane von Franz Heinrich Achermann (1881–1946) gelesen, ja geradezu verschlungen haben. Weil er es hervorragend verstand, Spannung zu erzeugen und Authentizität zu vermitteln, wurde Achermann bisweilen sogar als «Karl May der Schweiz» bezeichnet. Seine grössten Erfolge erzielte der vielschreibende Geistliche mit seinen prähistorischen Romanen, darunter: «Auf der Fährte des Höhlenlöwen».

Höhlenlöwe jagte Rentiere

Zwischen 1908 und 1913 arbeitete Achermann als Vikar in Schaffhausen, zu dessen Aufgaben auch die Betreuung der Katholiken in Thayngen gehörte. Das Kesslerloch und die dortigen Funde, inklusive jene des Höhlenlöwen, waren ihm eine wichtige Inspirationsquelle. Die Tierknochenuntersuchungen der Universität Tübingen haben sechs Kesslerloch-Höhlenlöwen (Panthera leo spelaea) nachgewiesen. Der Höhlenlöwe konzentrierte sich auf der Jagd genau wie die Menschen auf Rentiere, er lebte aber, entgegen seines Namens, nicht in Höhlen. Dank genetischen Untersuchungen steht eindeutig fest, dass der Höhlenlöwe zur Gattung der Löwen (und nicht der Tiger) gehörte. Die Abspaltung vom heutigen, etwas kleineren Löwen erfolgte vor ungefähr 600 000 Jahren. In Folge der Klimaerwärmung ist der Höhlenlöwe am Ende der Altsteinzeit um etwa 12 000 vor Christus ausgestorben.

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