Der Direktor des British Museum in London kaufte im Sommer 1875 für 80 Franken zwei Knochen aus dem Kesslerloch, auf denen ein Bär und ein Fuchs eingeritzt sind. Heute sind sie Millionen wert.
Andreas Schiendorfer
Als weltweite Geburtsstätte der Kunst kann dank ihren rund 36 000 Jahre alten Felsmalereien die 1994 entdeckte Grotte Chauvet in der Ardèche- Schlucht in Südfrankreich gelten. Sie gehört wie die 1940 gefundenen Felsmalereien von Lascaux zum Unesco-Welterbe. Als der Thaynger Reallehrer Konrad Merk am 4. Dezember 1873 zusammen mit seinem Kollegen D. Wepf und zwei Schülern ein erstes Mal im Kesslerloch grub, wusste man aber noch nichts von diesen fantastischen Felsmalereien. Im Gegenteil, die Kesslerlochfunde standen Mitte der 1870er-Jahre im Zentrum einer erbitterten Diskussion, ob denn die «primitiven» Sammler und Jäger der Eiszeit überhaupt künstlerische Fähigkeiten besessen haben konnten.
Zürcher Koryphäen begeistert
Die ersten Objekte aus dem Kesslerloch lösten am 4. Januar 1874 bei den Spezialisten in Zürich helle Begeisterung aus. Der Paläontologe Paul Choffat reiste noch gleichentags nach Thayngen, und der Geologe Albert Heim folgte ihm am Tag darauf. Das Glück war ihm hold: Kaum angekommen, zog Heim aus einer soeben frei gelegten Stelle das äsende bzw. weidende Rentier hervor. Die eigentliche Ausgrabung unter der Leitung von Konrad Merk folgte erst gut einen Monat später zwischen dem 19. Februar und dem 11. April 1874. Danach liess der Zürcher Antiquar Jakob Messikommer bis in den Winter hinein die Schuttberge vor der Höhle nach weiteren Artefakten durchsuchen. Zuständig dafür war der Thaynger Hilfsgräber Martin Stamm. Und dieser witterte die Chance, seinen kargen Lohn nachträglich etwas aufzubessern. Bereits waren Abbildungen von Ren, Wildpferd und Moschusochse gefunden worden, was aber bislang noch fehlte, waren Bär und Fuchs … An Ostern 1875 bat er deshalb seinen Neffen Konrad Bollinger, je einen Bären und einen Fuchs auf einen Knochen zu ritzen. Die Vorlage dazu fanden sie in einem Jugendbuch. Anfang Mai 1875 sandte Stamm die gefälschten Knochenzeichnungen an den Basler Zoologieprofessor Ludwig Rütimeyer. Dieser informierte umgehend seine Zürcher Kollegen und auch Konrad Merk, der seinen Grabungsbericht gerade abgeschlossen hatte und dem Basler Professor am 16. Mai mitteilte, auf eine Aufnahme der Neufunde zu verzichten, zumal «ich absolut nicht überzeugt bin von der Aechtheit dieser Abbildungen». Wer aber Konrad Merks «Der Höhlenfund im Kesslerloch bei Thayngen» wenig später kaufte (Inserat im «Schaffhauser Intelligenzblatt» vom 16. Juni 1875), der fand die beiden kindlichen Zeichnungen eben doch mitsamt eines kurzen Textes abgebildet. Die Antiquarische Gesellschaft in Zürich hatte als Geldgeber darauf bestanden.
Der Betrug wird entlarvt
Der Betrug wurde bald entlarvt. Wenig später liessen sich nämlich die beiden englischen Altertumsforscher John E. Lee und Augustus W. Franks in Schaffhausen die Originalknochen vorlegen. Sie bezeichneten diese sofort als Fälschungen – und unternahmen etwas echt Britisches: Franks, Direktor des British Museum, bezahlte für die Knochen 80 Franken «als Specimina bewusster Fälschung (…), um der Nachwelt als Zeugnisse, wie man fälscht, aufbewahrt zu werden». Lee hingegen übersetzte Merks Publikation ins Englische und trug so zur weltweiten Beachtung des Kesslerlochs bei (diese Übersetzung ist in einem Nachdruck greifbar). Doch die Engländer wahrten Diskretion. Das eigentliche Ungemach drohte aus Deutschland. Dort war der renommierte Gründungsdirektor des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz ein erbitterter Gegner aller Eiszeitkunst. Was nicht sein durfte, konnte nicht sein. Die beiden relativ plumpen Zeichnungen sollten ihm dazu dienen, den Eiszeitmenschen ein für alle Mal künstlerische Fähigkeiten abzusprechen. Tatsächlich publizierte Lindenschmit im Juli 1876 eine entsprechende Streitschrift. Die Basis des Ganzen: Zufällig hatte sein Sohn die Originalvorlagen des Bären und des Löwen im Kinderbuch «Die Thiergärten und Menagerien mit ihren Insassen » erkannt. Auch wenn Konrad Merk bei dieser leidigen Angelegenheit unschuldig war, wurde er von Lindenschmit doch namentlich angegriffen. Immerhin durfte er sich, nun Reallehrer in Gossau, über seine Rehabilitierung im «Schaffhauser Intelligenzblatt» vom 7. September 1876 freuen. Der erbitterte Wissenschaftsstreit aber tobte noch ein ganzes Jahr weiter. Erst im September 1877 wurde er am Kongress der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in Konstanz beigelegt. Dort sprach man sich klar für die Echtheit der Eiszeitkunst im Allgemeinen und des weidenden Rentiers im Speziellen aus. Somit kann man auch das Kesslerloch als eine Art Geburtsstätte der Eiszeitkunst bezeichnen
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Heute unbezahlbar
Das Rosgartenmuseum Konstanz erinnerte 1977 in einer Ausstellung an diesen Kongress und die Ausgrabungen im Kesslerloch – allerdings ohne Bär und Fuchs: Das British Museum hatte den Versicherungswert der beiden Fälschungen nämlich derart hoch angesetzt, dass von einer Ausleihe abgesehen werden musste. Unter dem Knochenmaterial des Kesslerlochs findet man übrigens – gemäss neusten Untersuchungen – sowohl den Rotfuchs als auch den etwas kleineren Eisfuchs und ebenso den Braunbären. Sogar ein Höhlenbär konnte nachgewiesen werden, allerdings ist dieser deutlich älter als die Funde aus der Zeit der Rentierjäger.