Die Villa Hosch macht Platz für das Alterswohnheim

Vor 125 Jahren gründen zwei Mitarbeiter der Firma Rieker zusammen mit dem Kaufmann Karl Hosch im Thaynger Kaufhaus eine Schuhfabrik. Bauliche Zeugen davon gibt es keine mehr: Die Liegenschaft wird 1939 von der Firma Knorr, die Villa Hosch 1972 von der Gemeinde abgerissen. Just hundert Jahre nach dem Aus der Schuhfabrik kommt 2005 wiederum eine Schuhmarke aus Tuttlingen nach Thayngen.

Andreas Schiendorfer

132 Handwerker werden in Thayngen zwischen 1855 und 1877 durch die örtliche Handwerkerkontrolle als Meister aufgenommen. Wir finden darunter je fünf Gabelmacher, Küfer, Müller und Schneider, je sechs Schlosser, Wagner und Zimmerleute sowie sieben Maurer und acht Bäcker. Am häufigsten vertreten sind jedoch die Weber und die Schuster. Sie stellen in diesem Zeitraum von 22 Jahren jeweils 15 Meister. Zunächst gehen mindestens acht Schuhmacher gleichzeitig ihrer Tätigkeit nach, betreiben aber vermutlich daneben noch eine kleine Landwirtschaft. Mitte der 1880er- Jahre sind es mit Johannes Bernath, Johannes Gori, Georg Hübscher, Johannes Müller und Georg Stocker immer noch fünf. Diese Schuster sind keineswegs erfreut, als sie im März 1885 hören müssen, die Gebrüder Hencke aus Tuttlingen hätten die Absicht, im mehr oder weniger leer stehenden Kaufhaus eine Schuhfabrik einzurichten. Unterstützung in ihrem Kampf gegen diese unliebsame Konkurrenz erhalten sie von Pfarrer Eduard Preiswerk, der wegen der «leichtlebigen» Fabrikarbeiter einen allgemeinen Sittenzerfall befürchtet. Tatsächlich wenden sich die Tuttlinger schliesslich Stein am Rhein zu, wo die Schuhfabrik Hencke bis 1972 ein bedeutender Arbeitgeber bleibt.
Wenige Jahre später bietet sich dem Gemeinderat eine weitere Chance: Im Juni 1891 vermeldet er, vorbehältlich der Zustimmung durch die Gemeindeversammlung, den Abschluss eines Kaufvertrags für das 1864 im Zusammenhang mit dem Bahnbau erstellte Kaufhaus. Wiederum wollen Tuttlinger hier eine Schuhfabrik eröffnen. Johann Martin Stengelin, Werkführer bei der 1874 gegründeten Firma Rieker und Seiz, und sein Schwiegersohn August Rapp, Buchhalter in der gleichen Firma, möchten sich mit der Hilfe des Kaufmanns Karl Hosch selbständig machen. Doch kaum hat man unterschrieben, will Stengelin «wegen Differenzen mit Herrn Hosch» wieder von seinen Verpflichtungen zurücktreten. Die Thaynger stellen aber derart hohe Entschädigungsforderungen, dass es am 16. Oktober 1891, also vor fast genau 125 Jahren, dennoch zur Fertigung kommt. Und danach geht es sehr schnell: Am 11. November liest man im Amtsblatt von der Absicht, «das hiesige Kaufhaus zu einer Schuhfabrik einzurichten und zugleich ein Kesselhaus nebst Kamin  anzubauen», und am 10. Dezember erfolgt der Eintrag der Firma Stengelin, Hosch & Co., Schuhwarenfabrikation
und Schuhhandlung, ins Handelsregister.

Bronzemedaille, aber auch Streit

Von der Firma, die für das Kaufhaus gut 26 000 Franken bezahlt und bereits nach kurzer Zeit 70 Mitarbeiter aufweist, weiss man trotz eines mehrseitigen Artikels in der neuen Thaynger Ortsgeschichte noch recht wenig. Immerhin gewinnt sie 1896 an der Landesausstellung in Genf eine Bronzemedaille. Wenig später zieht sich Stengelin abmachungsgemäss aus der Firma zurück, um Platz für seinen Schwiegersohn zu machen. Das Unternehmen heisst dementsprechend ab 1897 Hosch, Rapp & Co., doch der Ablöseprozess verläuft keineswegs so harmonisch wie vorgesehen. Es kommt zu Streit, Gerichtsprozessen und schliesslich im September 1898 zu einer Verurteilung Stengelins wegen Unterschlagung. Später geraten auch Hosch und Rapp wegen finanzieller Probleme aneinander – vielleicht ist es aber auch genau umgekehrt und die ständigen Streitereien an der Firmenspitze sind die Auslöser der Firmenkrise. 1903/04 kann jedenfalls die Schuhfabrik, die zeitweise bis zu 170 Mitarbeiter beschäftigt hat, den Konkurs nur durch einen Nachlassvertrag verhindern. Dabei müssen 111 Gläubiger auf drei Viertel ihrer Forderungen, insgesamt über 300 000 Franken, verzichten. Der Industrielle Jakob Zuberbühler, wichtiger Zulieferer und Teilhaber, kauft schliesslich die Schuhfabrik, die am 23. April 1904 im Handelsregister gelöscht wird, und übersiedelt sie nach Zurzach. Unter August Rapp nimmt sie vermutlich im September 1905 ihren Betrieb auf. 1907 verkauft die Firma Zuberbühler & Cie ihre nicht mehr benötigte Thaynger Liegenschaft der ansiedlungswilligen C. H. Knorr AG aus Heidelberg, welche die in die Jahre gekommene Schuhfabrik 1939 abreisst. Seit dem Jahr 2000 gehört die «Knorri»  bekanntlich zum niederländisch- britischen Unilever-Konzern.

Die Familie Bernath kauft die Villa

1905 muss Karl Hosch, der wegen der finanziellen Probleme seiner Schuhfabrik privat in Konkurs geht, seine 1896 erbaute Villa verkaufen. Dazu lesen wir im «Schaffhauser Intelligenzblatt » am 25. Januar folgenden Eintrag des Thaynger Korrespondenten: «Es mag den einen oder andern Leser dieses Blattes wundern, warum die sog. ‹Villa Hosch› beim Bahnhof Thayngen jetzt so geisterhaft erscheint, während bis vor kurzem die bekannten grossen ‹Schosshündchen› für sich allein schon übergenug Leben verursachten. Darum wird nachgetragen, dass das Haus jüngst von Herrn G. Bernath-Nägeli in Schaffhausen für Fr. 14 200 ersteigert worden ist; es dürfte von nun an in solid bürgerlicher Weise benützt werden.» Nach dem Verkauf des «Sonnenhofs» an die Firma Knorr lebt Franz Bernath-Rüttimann während Jahrzehnten in der «Villa». Das solid-bürgerlich benützte Haus wird im Volksmund weiterhin «Villa Hosch» beziehungsweise «Villa» genannt. 1961 kauft die Gemeinde die «Villa» für 220 000 Franken von der Erbengemeinschaft Bernath, weiss sie allerdings nicht so recht zu nutzen. Sie vermietet sie an Gastarbeiter und scheut sich vor den nötigen Investitionen; auf der rund 47 Aren grossen Liegenschaft hingegen stellt man einige Schulbaracken auf. Im Februar 1969 realisiert der Gemeinderat, dass weder das ehemalige Bethanienheim noch der ursprünglich bevorzugte Standort Merzenbrunnen sich für das geplante Alterswohnheim wirklich eignen, und erinnert sich gerade rechtzeitig an die «Villa». Sie wird 1972 von den Luftschutztruppen als willkommenes Übungsobjekt abgerissen, um dem geplanten Alterswohnheim am Blumenweg Platz zu machen. Dieses wird im Mai 1975 eröffnet. Die Schulpavillons werden im Silberberg noch lange als Dauerprovisorium genutzt; das heutige Schulhaus wird erst im September 2001 eingeweiht.

Arbeitsplätze dank Schuhfirma

Just 100 Jahre nach diesen Ereignissen kommt Rieker wiederum nach Thayngen, diesmal aber, wie man weiss, das Unternehmen selbst. 2003 kann die Wirtschaftsförderung die Ansiedlung der Rieker Schuh AG vermelden, 2005 eröffnet die Weltmarke, die rund 20 000 Mitarbeiter beschäftigt, in Thayngen ihre Firmenzentrale. 2008 wird ein Outlet-Schuhladen angegliedert. Heute ist Rieker wie seinerzeit die Schuhfabrik Stengelin, Hosch & Co einer der grössten Arbeitgeber des Reiats. Und an der Spitze des Familienunternehmens Rieker steht zwar kein Stengelin und auch kein Hosch, dafür aber Verwaltungsratspräsident Markus Rapp. Ob irgendwelche weit entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen mit August Rapp bestehen, ist nicht bekannt.

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